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Schlußbetrachtungen

Auf dem Höhepunkt der Präventivkriegsbestrebungen, während der Winterkrise 1887/88, konnte sich Bismarck zwar noch einmal mit seiner Vorstellung vom Primat der Politik durchsetzen und so den angestrebten europäischen Krieg verhindern. Trotzdem wird man das von Wilhelm II. gegenüber dem österreichischen Kaiser abgegebene Versprechen, den casus foederis künftig entsprechend der österreichischen Interpretation auslegen zu wollen, wohl als einen späten Sieg der von den Militärs favorisierten bündnispolitischen Ausrichtung des Deutschen Reiches betrachten müssen. Das Primat der Entscheidungsbefugnis vermochte die militärische Führung damit allerdings nicht an sich zu ziehen. Zu ausgeprägt war in dieser Hinsicht die Entschlossenheit Wilhelm II. in allen aus seiner Sicht wichtigen Fragen selbst zu entscheiden. So mußte nicht nur der Reichskanzler dem 'persönlichen Regiment' des jungen Kaisers weichen, auch Waldersee wurde am 02.02.1891 von seinem einflußreichen Amt als Generalstabschef entbunden(1) und mit dem Kommando des IX. Armeekorps betraut. An der von Waldersee maßgeblich geförderten Einstellung des Kaisers, nach der ein Krieg in der Zukunft unausweichlich drohe, änderte dies indessen nichts mehr.

Daneben hat die Untersuchung der Präventivkriegsbestrebungen zu mehreren Ergebnissen geführt, die hier kurz zusammengefaßt werden sollen.

An erster Stelle ist sicherlich die sowohl im deutschen wie auch im österreichischen Generalstab weit verbreitete Bereitschaft zu nennen, allein mit Hilfe militärischer Mittel die als verhängnisvoll empfundene Entwicklung der politischen Lage und die ihr entspringenden Schwierigkeiten lösen zu wollen. Ob es aus Sicht des Deutschen Reiches um den schleichenden Verlust der in den nationalen Einigungskriegen errungenen Hegemonialstellung ging, oder auf österreichischer Seite um die nicht aus eigener Kraft zu überwindende Begrenzung, die das russische Engagement der Donaumonarchie auf dem Balkan setzte, oder um den im Zuge der Industriellen Revolution ausgelösten gesellschaftlichen Wandel und die aus ihm resultierenden innenpolitischen Probleme: immer erschien der Präventivkrieg in den Augen der militärischen Elite gleichsam als Patentrezept, mit dessen Hilfe man den komplexen Schwierigkeiten würde begegnen können.

Dabei ist Waldersee und den verschiedenen Militärattachés durchaus kein Vorwurf darin zu machen, daß sie im Winter 1887 aus militärischer Sicht zu anderen Ergebnissen in der Beurteilung der Situation gekommen waren, als die politische Führung. Natürlich gehörte es zu ihren Aufgaben, auf das militärische Kräfteverhältnis aufmerksam zu machen und entsprechend auf die - zumindest der Generalität - günstig erscheinende Möglichkeit zur Kriegführung hinzuweisen. Man muß sich zur Beurteilung dieses Sachverhaltes immer wieder vergegenwärtigen, daß Krieg innerhalb der europäischen Staatenwelt des 19. Jahrhunderts durchaus noch ein legitimes Mittel der (Real-)Politik darstellte. Wenngleich man aber bereits darum bemüht war, das Odium des Aggressors zu vermeiden, indem man versuchte, den Gegner zum ersten Schritt zu provozieren.

Allerdings hätte sich die Generalität auf deutscher wie auch auf österreichischer Seite (Moltke ausgenommen) nicht nur die Frage stellen müssen, ob Krieg ein legitimes, sondern ob es in der gegebenen Lage auch noch ein brauchbares, d.h. angesichts der erwarteten "allgemeine[n] Schlächterei"(2) ein zu verantwortendes Mittel darstellte.

Der Historiker ist bei seinem Urteil über vergangene Epochen gehalten, sich an den zeitgenössischen Wertmaßstäben zu orientieren; gerade deshalb aber kommt den von Moltke ausgesprochenen Warnungen gegenüber einem zukünftigen Krieg in Europa - und das schloß den Präventivkrieg mit ein - eine so große Bedeutung zu. Aufgrund dieser Warnungen nämlich läßt sich der Generalität der durchaus zeitgenössisch begründete Vorwurf eines eklatanten Verlusts an Verantwortungsgefühl machen.

Diese Verantwortungslosigkeit wiegt um so schwerer, als sich die führenden Militärs durchaus keinen Illusionen über Umfang und Bedeutung der angestrebten Konfrontation hingaben. Wenn Waldersee von dem bevorstehenden "Weltkrieg" sprach, bei dem man um die nationale Existenz fechten werde, oder wenn der österreichische Kronprinz Rudolf den Schluß zog, daß man besser "von der Großmachtstellung [...] abdizieren" müsse, falls man den günstigsten Zeitpunkt für eine militärische Auseinandersetzung mit Rußland versäumen sollte, dann deutet dies daraufhin, daß man bereit war, diesen Krieg rücksichtslos und unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel zu führen(3). Auch wenn man innerhalb der militärischen Spitze vielleicht nicht gerade einen enorm verlustreichen Stellungskrieg von der Art erwartet hatte, wie er im Verlauf des Ersten Weltkrieges Wirklichkeit werden sollte, so waren dennoch die Erfahrungen der Napoleonischen Feldzüge, des deutsch-französischen, wie auch des Krimkrieges und der in seinem Verlaufe erfolgten Belagerung Sewastopols bekannt(4).

Als weitere Kritik wird man äußern müssen, daß Waldersee - als Repräsentant der überwiegenden Mehrheit der führenden Militärs - sich nicht darauf beschränkte, der politischen Führung beratend zur Seite zu stehen und diese auf die militärische Alternative aufmerksam zu machen. Vielmehr versuchte er seine Auffassung von der Notwendigkeit eines Präventivkrieges gegen Rußland auch gegen deren Widerstand durchzusetzen! Auch wenn im Winter 1887 mit der Auseinandersetzung um das Primat der Entscheidungsbefugnis an erster Stelle immer das konkrete Ziel verbunden war, den europäischen Krieg auszulösen, so zeigt sich zumindest in der Äußerung des Generals von Loe, nach der die Politik im Grunde der Generalität zu Diensten sein solle, die gefährliche Tendenz, die politische Führung nicht nur in einer Einzelfrage aus ihrer übergeordneten Stellung verdrängen zu wollen.

In der Auseinandersetzung selbst, das wird man allerdings einräumen müssen, hat sich die militärische Elite weitestgehend verfassungskonform verhalten: vermutlich durch die Aussicht auf die baldige Kaiserkrönung des Prinzen Wilhelm zuversichtlich gestimmt, lassen sich jedenfalls in den Quellen keine konkreten Staatsstreichpläne der Militärs finden.

Die Auseinandersetzung mit den Ursachen der pessimistischen Haltung der militärischen Führung hat gezeigt, daß Bismarck in nicht unbeträchtlichem Maße für den zunehmenden Druck, unter den sein außenpolitisches System geraten sollte, mitverantwortlich zu machen ist. Auch wenn er vielleicht davon ausgegangen ist, daß sich sein 'System der Aushilfen' unter veränderten Bedingungen auch in der Zukunft werde fortsetzen lassen(5), so hat doch seine grundsätzliche Absicht, die europäischen Großmächte gegeneinander auszuspielen bzw. in steter Rivalität zueinander zu halten, dazu beigetragen, daß die vorhandenen Spannungen innerhalb des europäischen Staatensystems nicht ausgeräumt, sondern kanalisiert und damit letztlich nur konserviert wurden. Zudem förderte er wiederholt diese Spannungen, wenn er darin einen politischen Nutzen begründet sah; wie während der 'Krieg-in-Sicht-Krise' 1875 oder der Boulangerkrise 1886/87.
Als eine Sonderform dieser aufrechterhaltenen und kanalisierten Rivalitäten wird man wohl seine Separatkriegsoption gegen Frankreich ansehen müssen. Nach den vorliegenden Quellen erscheint sie gleichsam als 'Regieplan' für den Fall, daß sich der Frieden eben nicht mehr mit diplomatischen Mitteln werde erhalten lassen können. Daß Bismarck, wie Konrad Canis dies an manchen Stellen nahe legt, die Separatkriegsoption an erster Stelle - noch vor seinem Wunsch, den Frieden zu erhalten - verfolgt haben soll, erscheint angesichts seiner häufigen und größtenteils auch überzeugenden Einwände gegen einen zukünftigen europäischen Großkrieg als wenig überzeugend.

Gleichwohl wird man einräumen müssen, daß er bestrebt gewesen ist, die Konstellation unter den europäischen Mächten gezielt so zu gestalten, daß das Deutsche Reich einen erneuten Krieg gegen Frankreich unter möglichst günstigen Bedingungen hätte führen können, ja mehr noch, nach Auffassung Bismarcks bei Eintreten dieser Bedingungen den Krieg auch hätte führen müssen.

Die grundsätzliche Bereitschaft des Reichskanzlers zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Frankreich ging dabei so weit, den Zweifrontenkrieg notfalls auch selbst herbeiführen zu wollen, sollte Frankreich in einen Krieg der Zweibundmächte mit Rußland nicht von sich aus eintreten.

Die eingebrachten Septennatsvorlagen sollten dabei zunächst nur das notwendige militärische Potential sicherstellen. Daneben haben sie aber auch in einem erheblichen Maß zu der "völligen inneren Militarisierung" der deutschen Gesellschaft beigetragen(6).

Im Zusammenhang mit der Bewertung der Bismarck'schen Separatkriegsoption ist auch die These Ulrich Noacks zurückzuweisen. Noack hatte postuliert, daß es Bismarcks unbedingte Friedenspolitik gewesen sei, die für den deutschen Machtverfall und letztlich auch für die Katastrophe von 1914 verantwortlich zu machen sei. Bei der näheren Betrachtung der Separatkriegsoption treten jedoch zwei Aspekte besonders deutlich hervor, die der These Noacks entgegenstehen: zum einen die Abneigung Großbritanniens, sich in dem von Noack vorausgesetzten und letztlich sicher auch von Bismarck gewünschten Maße auf dem Kontinent zu engagieren(7), und zum anderen hatte sich Bismarck mitnichten zu einem bedingungslosen Pazifisten gewandelt, wie es Noacks These annimmt. Krieg war für den Reichskanzler auch am Ende seiner Amtszeit durchaus noch ein legitimes Mittel der Politik, aber es bekam angesichts der zu erwartenden "Kalamitäten" einen immer fragwürdigeren Charakter. Für den Realpolitiker Bismarck scheint sein Einsatz nur noch unter günstigsten Voraussetzungen sinnvoll gewesen zu sein - der Präventivkrieg gegen Rußland zählte nicht dazu.

Als ein weiteres Ergebnis der Arbeit bleibt festzuhalten, daß gerade im Ringen zwischen militärischer und politischer Führung um die Auslösung des Präventivkrieges deutlich wurde, wie groß der Anteil individueller Entscheidungsfreiheit und damit der Einfluß einzelner Personen auf Verlauf und Entwicklung geschichtlicher Prozesse ist. Die von Imanuel Geiss vertretene Auffassung, nach der primär "überpersönliche Kräfte" und "universalhistorische Mechanismen" in der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges wirksam gewesen wären und zu ihm geführt hätten(8), ist m.E. zurückzuweisen. Der individuelle Handlungsspielraum, aus dem letztlich auch persönliche Verantwortung erwächst, war in der Winterkrise 1887/88 für Bismarck, Waldersee oder Wilhelm I. keinesfalls so gering, als daß der Friede einzig und allein aufgrund geschichtsmächtiger Mechanismen gewahrt geblieben wäre.

Analog dazu wird man den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ebenfalls nicht primär auf das Wirken anonymer Automatismen zurückführen können. Natürlich unterlagen die Handlungs- und Entscheidungsträger der politischen und militärischen Elite in gewissem Maße Sachzwängen und auch Begrenzungen gesellschaftlicher bzw. standesgemäßer Art. Beispielsweise wäre eine Verständigung mit Frankreich über Elsaß-Lothringen - durch eine Neugliederung entlang der Sprachgrenze, wie es die Sozialdemokratie in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder gefordert hatte(9) - unter den bestehenden Herrschaftsverhältnissen kaum durchsetzbar gewesen. Aber so elementare Entscheidungen, wie die Einwilligung zu einem Angriffskrieg oder das Einleiten einer präventiven Verteidigung wurden von einzelnen Personen (verfassungsrechtlich vom Kaiser in Abstimmung mit dem Bundesrat(10)] oder aber innerhalb eng begrenzter Führungszirkel getroffen. Hier die individuelle Handlungsfreiheit auf einen kaum noch maßgeblichen Faktor reduzieren zu wollen, erscheint absurd. Man tut gut daran, sich den Standpunkt Bismarcks und auch Moltkes gegen einen Krieg mit Rußland zu vergegenwärtigen, um den von Geiss hinsichtlich der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges konstatierten "Eindruck einer mechanistischen Fatalität" bzw. der "atembeklemmende[n] Folgerichtigkeit der Entwicklung" zu durchbrechen(11).

Der wirtschaftshistorische Exkurs hat gezeigt, daß die zollpolitischen Auseinandersetzungen auf die diplomatischen und politischen Entscheidungen der Krisenjahre 1885-1888 kaum einen Einfluß gehabt haben dürften. Die von der sozialhistorischen Forschung bisweilen vertretene Auffassung, daß gerade die ökonomische Rivalität zwischen dem Deutschen Reich und Rußland zu dem späteren Bündnis zwischen Frankreich und dem Zarenreich geführt habe, hat sich als nicht überzeugend erwiesen. Insbesondere die prohibitive Wirkung der deutschen Agrarzölle - die Rußland zu einem Kurswechsel veranlaßt haben sollen - ist sowohl von Helmut Böhme als auch von Hans-Ulrich Wehler überschätzt worden. Ein Ergebnis, das im übrigen selbst der Wehler-Schüler Horst Müller-Link nach eingehender Prüfung der verfügbaren Wirtschaftsdaten vorsichtig einräumt(12). Die russische Agrarkrise lag im wesentlichen im strukturellen Wandel des Weltagrarmarktes begründet. Das hinderte die russischen Großgrundbesitzer freilich nicht daran, die deutschen Agrarzölle für ihre schwierige Lage verantwortlich zu machen. Aber ein von hier ausgehender maßgeblicher oder gar dominierender Einfluß auf die Entscheidung des Zaren, sich auf ein Bündnis mit Frankreich einzulassen, ist nicht nachweisbar.

Vielmehr haben originär diplomatische bzw. politische Ursachen immer wieder den Anstoß für gegenseitige Bündnissondierungen zwischen Rußland und Frankreich gegeben. Sowohl im Rahmen der von Bismarck gezielt geschürten Kriegshysterie während der Boulangerkrise als auch während der Winterkrise 1887/88, als die militärische Führung die Verwirklichung ihrer Präventivkriegsvorstellungen zu erreichen suchte, wurden richtungsweisende Initiativen unternommen. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die These von Deutschlands 'Auskreisung' an neuen Aspekten.


(1) Hintergrund dieser 'Verbannung' aus Berlin war eine Auseinandersetzung Waldersees gewesen, die er mit Wilhelm II. über Manöverfragen gehabt hatte. Vgl. Mohs, H.: a.a.O. S. 20. u. 351.
(2) Bußmann, W.: a.a.O. Herbert von Bismarck an den Bruder, 11.11.1887. Zitat S. 479.
(3) NL Waldersee, 01.01.1888, Nr. 14, 55. GP VI, 1175. Reuß an Herbert von Bismarck, 19.01.1888. Zitat S. 45.
(4) Röhl gibt die Verluste der Napoleonischen Kriege für den Zeitraum 1801-1805 mit 6 Mio. an; die des deutsch-französischen Krieges mit 110.000. Vgl. Röhl, J.C.G.: Wilhelm II. S. 616. Die Verluste im Krimkrieg betrugen etwa 600.000 - 700.000 Mann. Vgl. dazu Kennedy, P.: a.a.O. S. 274 in Verbindung mit S. 277. Die Belagerung Sewastopols wird als der erste moderne Stellungskrieg gewertet.
(5) Mommsen, W.J.: Großmachtstellung. S. 91. Vgl. jetzt auch Elzer, H.: a.a.O. S. 447ff.
(6) Mommsen, W.J.: Großmachtstellung. S. 95.
(7) Vgl. auch Hillgruber, A.: S. 190f.
(8) Geiss, I.: a.a.O. S. 23f.
(9) Wolter, H.: a.a.O. S. 174f.
(10) Vgl. hierzu die ergänzenden Hinweise zu Art. 11 der Reichsverfassung auf S. 106, Anm. 547.
(11) Geiss, I.: a.a.O. S. 23.
(12) Müller-Link, H.: a.a.O. S. 73-75 u. S. 277ff.

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